Simson AWO 425T Icarus

Frank Bick am 16.06.2019. Ein Bericht über die letzten Stunden vor der Fertigstellung eines Custombikes.

Am Donnerstag den 14.06.2019 meldete sich Swen Weber bei mir, er hatte es wieder getan. Der dritte schrille Vogel sollte am kommenden Freitag fertiggestellt werden. Inklusive Probelauf. Denn am Samstag wird wieder ein großes Customspektakel bei Thunderbike in Hamminkeln stattfinden, das Jokerfest. Das wäre doch prima dort ein erstes Mal auf Tuchfühlung mit dem Publikum zu gehen, vielleicht sogar einen der begehrten Preise zu erhalten. Bedingung dafür war, dass das Motorrad eigenständig auf die Bühne gefahren wurde. Es musste also laufen, schalten und natürlich auch bremsen, ansonsten würde der Aufenthalt zu kurz ausfallen. Bei bestem Wetter machte ich mich am Freitag gegen 15 Uhr auf den Weg, hangelte mich auf meiner BMW F 800 GS durch den gigantischen Feierabendverkehr des Ruhrgebiets. Natürlich wurde ich geblitzt und angehalten. 105 km/h auf einer 70 km/h Landstraße. Der freundliche Polizist fragte, ob ich denn überhaupt den Tacho im Blick hätte?

„Ich fahre nach Gefühl.“ „Da fühlen Sie wie schnell Sie fahren?“ „Nein, ich fahre so dass es sich gut anfühlt. Daher war es heute nicht das erste oder letzte Mal, dass ich bezahlen muss.“ Das fing ja gut an. Als Optimist redete ich mir ein, dass es nun nur noch besser werden kann. Etwas aufgepeitscht fuhr ich auf den schmuddeligen Hinterhof zu Swens industrieromantischer Halle. Ich folge einfach der Musik. Swen war schwer beschäftigt. Er müsse nur noch ein paar Kleinigkeiten machen, dann wäre das Motorrad auch schon fertig für die erste Fahrt. Das ginge schnell, und es sei ja noch früh. Die größte Hürde war neben dem Einbau von Batterie und Vorderrad noch die Fertigstellung eines Messingblechs zum Abschluss der eleganten Seitenverkleidung. „Lief das Teil denn überhaupt schon mal?“ „Ja klar, wir haben es mal auf der Bühne angeworfen, bevor es komplett zerlegt wurde.

Da war jemand noch optimistischer als ich, auch bei der Namenswahl. Ein Motorrad Icarus zu nennen ist eine gewagte Tat, denn der gleichnamige Mann der in der Sage mit Flügeln vom Turm sprang, in dem er gefangen war, stürzte ab, weil die Flügel sich lösten. Er wollte zu hoch hinaus, schlug die Warnung seines Vaters Daidalos in den Flugwind, kam der Sonne zu nah, die Wachsverbindungen zwischen den Federn schmolzen. Er stürzte ins Meer, der Leichnam wurde auf der Insel Ikaria beigesetzt. Meine Bedenken konnte Swen nicht teilen, der Name wäre mystisch und außerdem hätte es früher in der DDR einige Busse des ungarischen Herstellers Ikarus gegeben. Die fuhren wie ne Eins. Um Verwechslungen zu vermeiden, kam noch das vornehmere C in den Namen.

Während Swen hochkonzentriert und zügig arbeitete, schaffte ich mir einen Überblick über das neueste Werk. Wie nicht anders zu erwarten, hatte er an der Simson AWO 425T von 1957 ganze Arbeit geleistet. So gut wie nichts an dem Motorrad ist Serie oder aus dem Zubehör, und wenn dann wurde es bis zur Unkenntlichkeit verändert. Gehen wir es mal von vorne bis hinten durch, sicher werden die Experten der Magazine ausführlicher berichten und schickere Fotos machen, daher fasse ich mich kurz. Die Laufräder wurden auf 21 Zoll neu eingespeicht, die Trommeln und auch Motordeckel und viele andere Details bei Stahlgut graviert. Die beschichtete Gabel ist eine Trapezgabel aus dem Hause DKW, Baujahr 1935. Der Rahmen wurde in der Mitte geteilt, das hintere Teil durch eine starre Eigenanfertigung ersetzt. Gelenkt wird mit einem breiten Beachbar-Lenker. Die Griffe und Armaturen sind Eigenbau. Faszinierend ist der Gasgriff, der über einen Hebel eine Wippe betätigt, die wiederum am Gaszug zerrt. Alle Hebel sind gefräst, blattvergoldet und poliert. Die Schutzbleche vorn und hinten haben eine Sicke, sie stammen von den Seitenteilen einer Schwalbe. Alles was goldig glänzt, ist vergoldet oder aus Messing. Für die Vergoldung sind die Mannen von Revoli Bochum verantwortlich. Alle Blecharbeiten, Schutzbleche und Verkleidung hat Swen selbst gebaut, die Tank-Verzierung und auch der Solositz gehen auf die künstlerische Freiheit von Katharina von der Eiche zurück. Die Sitzhalterung ist aus einer Skateboardachse mit Türgriffenden entstanden. Jörg der Dreher (die Telefonnummer ist Swen bekannt, mehr nicht) ist für die Rasten verantwortlich.

Ich werde aus meinen Detailbetrachtungen gerissen und höre Swen fluchen. „Mist, mir fehlen noch 30 kleine Schrauben für das Messingabschlussblech vor der Verkleidung“. Ich stürze mich mit der BMW wieder in den pulsierenden Ruhrgebietsverkehr. Auf zum örtlichen Baumarkt. Exakt um 19 Uhr komme ich mit den Schrauben in der Halle an. Swen hat 40 Minuten lang mit einem Dremel unzählige Ausfräsungen an der Blechkante vorgenommen. Der Mann arbeitet unermüdlich, wirklich gut organisiert, schnell und sehr präzise. Diese Fähigkeit hat er als angestellter Installateur erworben. Unter Druck arbeiten, trotzdem nichts mit dem Bade ausschütten. Das Blech wird montiert, das Vorderrad eingesetzt und ich darf stolz als erster Probesitzen. Wir lachen und sind entspannt. Dann stellen wir fest, dass der Seitenständer zu lang ist. Bevor ich etwas sagen kann, schraubt der Mann flugs die Raste und den Seitenständer ab. Grinsend merkt Swen kurz an, dass ich sitzen bleiben müsse, es ginge aber schnell. Ich höre ihn im Hintergrund fräsen, sägen, trennen, entgraten und schon gegen 20 Uhr montiert er den passgenauen Seitenständer. Ich darf absteigen, es geht nach draußen, wo uns auffällt kein entsprechendes Benzin zu haben.

Ein Kumpel kommt mit Benzin vorbei, die Kiste wird befüllt und gegen 21 Uhr angekickt. Es bollert angenehm, das ganze Motorrad schüttelt und rüttelt sich, unterbrochen durch ein paar Fehlzündungen. Jetzt lösen sich zu allem Überfluss einige Schrauben von ganz allein. Wir blicken uns an, denken sofort das Gleiche: Icarus. Hier muss Loctite die Federn des Fluggeräts zusammenhalten, keine Frage. Nach der Einstellung der Kupplung und dem Nachziehen einiger Schraubverbindungen kommt es gegen 22 Uhr zum ersten Tiefflug des (nicht) gefallenen Engels namens Icarus. Für die Bühne bei Thunderbike muss es vorerst reichen. Nachtrag, es hat gereicht: Best of Show.

Flieg Icarus flieg, nicht zu hoch, nicht zu tief, geradewegs in die Freiheit.



Links in der Übersicht:
Simson Spatz von Swen: Bericht ansehen
Simson Schwalbe Phantom3 von Swen: Bericht ansehen

Swen Weber Customs: https://www.facebook.com/swenweber.customs
Revoli Bochum Oberflächenveredelung https://www.revoli-bochum.de
Katharina v.d. Eiche https://www.facebook.com/kvde.works/
Stahlgut https://www.facebook.com/Stahlgut-984413648320422
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