Vom platten Reifen und eingegrabenen Cadillacs

20170916 Cadillac Ranch 1Wer die Ruhe sucht, muss die Unruhe hinter sich lassen. Am Stadtrand von St. Louis führt mich mein Weg auf die alte 66. Eine Strecke von gut 6 Stunden vor mir, hoffe ich die letzte große Stadt im Rücken auf etwas Ruhe. Dass ich direkt auf die Zeit meines Babydolls zusteuere, signalisiert mir der schwarze Pickup, der sich statt mich zu überholen, auf einer Höhe zu mir hält. Aus dem dunklen Innenraum heraus leuchten mich große Augen an und ein paar dunkle Hände mit hellen Handflächen versuchen meine Aufmerksamkeit mit wilden Bewegungen auf das Heck meines Autos zu lenken.

Ich lasse das Fenster herunter und der Schwarze auf dem Beifahrersitz des Pickups schreit etwas von Air und Tire zu mir herüber. Dann gibt der Fahrer Gas und ich Lenke das Auto an den Rand der Straße. Wie war das noch gleich mit der auf dem Winkelschlüssel wippenden Elfe, dem Babydoll und dem Gefühl mit einem relativ neuen Auto auf der sicheren Seite zu sein?

Das linke Hinterrad verliert eindeutig Luft. Es ist zwar noch nicht komplett platt, wird aber wohl nicht mehr lange dauern. Die letzte große Kreuzung mit Tankstelle liegt gut 20 Meilen hinter mir und was vor mir liegt, kann ich auf der Karte nicht deuten. Bisher habe ich mich bei so gut wie jedem Abzweig für die falsche Richtung entschieden, aber solange noch Luft im Reifen ist, soll mich das Auto nach vorne bewegen und so wähle ich diesen Weg, statt zu einer Kreuzung zurückzufahren, die ich möglicherweise eh nicht mehr erreichen werde.

Nach gut 10 Meilen kommt endlich so etwas wie eine Ansammlung von Gebäuden in Sicht. Das Hinterrad rollt nun fast auf der Felge und der Versuch an der nächsten Tankstelle Luft in den Reifen zu bekommen, erledigt sich mit der Schraube, deren Kopf mich aus der Lauffläche heraus anstrahlt. An der Tankstelle gibt es nur das, was es hier an Tankstellen so gibt. Benzin, Kaffee, Hot Dogs, kein Werkzeug und die Stunden des Fahrzeug kundigen Tankwarts, den man aus alten amerikanischen Filmen kennt, sind längst gezählt.

Die Menschen, die man heute hinter dem Tresen antrifft, machen in der Regel einer eher debilen Eindruck, ein Babydoll besitze ich nicht und das letzte bisschen Hoffnung, dass ich unter der Ablage im Kofferraum auf das Ersatzrad, den Wagenheber und einen Winkelschlüssel stoße, löst sich mit dem Anheben der Ablage in Nichts auf.

Das Rad zu wechseln, wäre für mich kein Problem. Aber da man bei Alamo dem Kunden einen Radwechsel nicht zuzutrauen scheint, hat man das Ersatzrad kurzerhand durch einen Styroporblock ersetzt. Und wer kein Rad hat, der braucht auch kein Werkzeug. Dafür habe ich einen schön gestalteten Flyer mit einer 24 Stunden Notfallnummer aber kein Telefon mit dem ich die Nummer wählen könnte.

Wie ich also so neben dem platten Reifen stehe und überlege was zu tun ist, kommt ein älterer Herr von der Zapfsäule zu mir herüber. Er betrachtet kopfschüttelnd das Rad und stellt das Wort „Rentalcar“ mit einem Fragezeichen versehen in den Raum. Wenn es jemanden gibt, der ohne große Worte zu machen verstanden hat worum es geht, dann ist es dieser Mann denke ich so bei mir. Ich halte meinen Flyer hoch und er beginnt zu grinsen.

„Eine Meile die Straße runter, gibt es beim Walmart einen Reifendienst. Wenn sie dir noch nicht mal ein Ersatzrad ins Auto packen, dann scheiß was drauf und fahre einfach auf der Felge weiter!“

 Gesagt, getan, rolle ich ein paar Minuten später vor das Tor des Walmart Reifendienstes. Der Mechaniker der rauchend vor dem Tor steht, interessiert sich nur kurz für das Rad und stellt dann in der Tradition des alten Herrn das Wort „Rentalcar?“ in den Raum. Ich greife wieder zum Flyer und auch er beginnt zu grinsen.

Danach geht eigentlich alles ziemlich flott, er schnappt sich den Flyer und greift zum Telefon um zu klären, wie das nun mit dem rund um die Uhr Sicherheitspaket hier am Arsch der Welt zu verstehen ist. Von der anderen Seite der Leitung her wird ihm wohl mitgeteilt, dass sie den Reifen wechseln und ich in Vorkasse treten soll. Der Betrag wird dann bei der Rückgabe erstattet. Das glaube ich zwar nicht, habe aber im Augenblick keine andere Wahl.

Nach einer halben Stunde steht die Kiste wieder vor dem Tor und der Mechaniker will wissen, wohin es nun gehen soll.

„Amarillo!“

„Dann halte etwa fünf Meilen westlich der Stadt die Augen auf und schau dir die Cadillacs an!“

Ich erreiche die Cadillacs kurz vor Sonnenuntergang und damit im schönsten Licht des Tages. Was genau jemanden auf die Ideen bringt eine Reihe von Cadillacs mit der Front voran in der Mitte eines Maisfeldes bis zur Hälfte im Boden zu versenken, soll zunächst das Geheimnis des Mannes bleiben, der sich dazu entschieden hat. Auf dem Feld lässt sich nicht der geringste Hinweis dazu finden. Während in den USA nahezu jeder Furz von touristischen Interesse zu einer Informationsoperette aufgeblasen wird, gibt es hier nichts zum Sinn des Ganzen.

Es gibt das Feld, die Reihe der im Boden steckenden Cadillacs und einen breiten, ausgetreten Weg der den freien Zugang und damit so eine Art sich anhaltend verändernde Kunst. Denn wenn man näher kommt, stellt man fest, dass der Boden um die Cadillacs von zahllosen Spraydosen übersäht ist und es jedem Besucher frei steht, sich eine dieser Dosen zu greifen und sich nach Lust und Laune für den Augenblick eines Fotos auf der Oberfläche der Autos künstlerisch zu verwirklichen.

Das Klackern der Sprühdosen vermischt sich mit dem Klicken der Kameras, die den Augenblick der Aktion festhalten. Dann kommt der Nächste und die grade noch gegenwärtige Kunst vergeht im Nebel des Lacks eines neuen Werks. Die Oberfläche der Cadillacs hat sich dabei in so etwas wie eine organisch wirkende Lackhaut verwandelt. Es gibt kaum noch harte Ecken und Kanten und auch wenn die Fahrzeuge noch in ihrem Ursprung zu erkennen sind, ist doch etwas eigenartig Neues entstanden.

Ich fahre am nächsten Morgen noch einmal hin und stelle fest das nahezu alle Kunst vom Vorabend bereits wieder übersprayt wurde. Wenn die Cadillacs als Kunst zu verstehen sind, dann wird dem Besucher auf wunderbare Weise die Möglichkeit geboten ein aktiver Teil des Werks zu werden. Das sieht wohl auch die ältere Dame so, die sich zunächst von ihrem Mann den Gebrauch einer Spraydose erklären lassen muss, bevor sie die Kugel klackern lassen und neue Farbe ins Spiel bringen kann.

Für sie ist das möglicherweise die erste größere Kunstaktion ihres Lebens und sie lacht als sie begreift, dass man mit einer Spraydose besser nicht gegen den Wind sprüht. Ihrem Mann scheint das alles eher peinlich. Ein Foto wird natürlich trotzdem gemacht. Und weil ich gerade so in der Landschaft stehe, würden sie sich freuen, wenn ich eins von den Beiden, dem Werk und Cadillacs machen könnte.

Und wenn ich möchte, dann könnte er auch eines von mir… 

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