16th Vibes Meeting in Yamaguchi
Japan 2008
Text und Fotos: Peter Su Markus
Seit japanische Custom Aufbauten weltweit auf den angesagten  Bike Competitions  durch  ihre spektakulären Harleyaufbauten die Preise abräumen, richtet sich das Interesse der westlichen Berichterstattung immer mehr auf die japanische Harley-Szene.

Dabei handelt es sich in der Regel meist um professionelle Aufbauten. Die Kreationen von Chicara Motorcycles, Hot Dock Custom Cycles, Zero Engineering, dessen kreativer Kopf Shinya Kimura inzwischen nach Amerika ausgewandert ist und dort mit Yasuyoshi „Chica“ Chikazawa und Keinosuke „Keino“ Sasaki die japanische Fahne hochhält, sind in punkto harmonisch fliessender Formen und handwerklicher Perfektion kaum noch zu überbieten. Unerreichbare Träume für den bescheiden vor sich hinschraubenden Harley-Fan? Mitnichten. Wer der Meinung ist, dass es sich bei diesen Bikes, deren Präsentation sich auch in Japan meist auf Indoorveranstaltungen wie der „Cool Breaker Custom Show“ oder der „Yokohama Hod Rod & Custom Show“ beschränken, um die Krönung der japanischen Harleyszene handelt, wird auf einem der im Land der aufgehenden Sonne zahlreich stattfindenden Bikertreffen schnell eines besseren belehrt.  Die in der westlichen Welt bekannt gewordenen Aufbauten stellen lediglich die Spitze des Eisberges dar.

Auf diesen Veranstaltungen, die von der Szene dort schlicht „Meetings“ genannt werden – man gibt sich gerne „international“, obwohl Englisch dort fast nicht gesprochen wird, lässt sich all das finden, was auf den Straßen Japans tatsächlich bewegt wird. Wer die Nähe zu japanischen Bikern sucht und sie mit ihren Maschinen treffen will, muss den Hallen der Bikeshows den Rücken kehren und sich auf den Weg zu diesen abseits der großen Städte stattfindenden „Meetings“ machen.

Eines, wenn nicht sogar das wichtigste dieser Art ist das alljährlich im Oktober stattfindende „Vibes Meeting“. Dieses Meeting wird vom „Vibes Magazin“, der führenden „Chopper“ Zeitschrift des Landes ausgerichtet und entsprechend der Chopper Philosophie der frühen 60ger und 70ger Jahre ist es selbstverständlich, dass man sein Bike zum Meeting fährt und nicht auf einem Trailer transportiert, was die Robustheit der meist jenseits westlicher Vorstellungskraft  gestalteten Motorräder beweist.

Der Veranstaltungsort wechselt jährlich, und für 2008 wurde für die Biker der Ort Yamaguchi, im äußersten Süden der Hauptinsel Honshu ausgerufen. Ebenso wie bei uns, handelt es sich auch in Japan bei einem  im Oktober stattfindenden Outdoortreffen in Bezug auf das Wetter um ein Roulettspiel. Doch das „16th Vibes Meeting“ direkt an der Pazifikküste stand diesbezüglich unter einem ausgesprochen guten Stern und so lockten die Aussichten auf drei sonnige Tage bei 28° Celsius unzählige Biker nach Yamaguchi.

Das Grollen der V Twins begann am Samstagmorgen und sollte bis zum späten Montagabend nicht mehr abreißen und so mancher der überraschten Einwohner der kleinen Ortschaft wird wohl eine erneute Besetzung Japans durch amerikanische Truppen befürchtet haben.

Jeder der eintreffenden Biker trug auf seine Weise dazu bei, dem Bild japanischer Zweiradsamurai eine Gestalt zu verleihen. Da dieses Bild offensichtlich zu 95 % durch den Ritt auf  amerikanischem Eisen geprägt war, gab es bezüglich dieses Bildes einiges an Überraschungen zu verzeichnen.

Auffallend ist, dass die „Haley-Samurai“ bei der Wahl ihrer Motoren offensichtlich den alten Triebwerken den Vorzug gaben. Dabei scheinen Motoren der Panhead Baureihe, dicht gefolgt von den Early Shovel und Late Shovel Motoren ganz oben auf der Wunschliste zu stehen. Doch auch den frühen Sportster Motoren steht man in Japan offensichtlich sehr wohlwollend gegenüber.

Wer also im Land der Sonne etwas auf sich hält, lässt sich von alten amerikanischen Eisen bewegen. Nun ist es allgemein bekannt, dass die Technik der alten Motoren durchaus ihre Tücken besitzt und der Umgang mit ihnen eine gewisse Erfahrung erfordert. Dementsprechend rechnet man damit auf „alte“ Biker zu treffen. Das geringe Durchschnittsalter dieser „alten“ Biker ist die nächste Überraschung, die die japanische Harley–Szene bietet. Eine ungewöhnlich große Zahl der Besitzer besonders alter Eisen dürfte das 30. Lebensjahr kaum überschritten haben und nicht wenige dieser jungen Biker sind weiblich.

Der Hintergrund für die Begeisterung junger Japaner für die uramerikanische Marke ist vor allem der Wunsch sich fernab aller in Japan geltenden gesellschaftlichen Zwänge auf den dumpf grollenden Motoren dem Gefühl einer Freiheit hinzugeben, die sich an anderer Stelle dort nur schwer finden lässt. Zur Erlangung dieses Traums und der Möglichkeit dem Gleichklang des japanischen Gesellschaftszwangs zumindest für begrenzte Zeit entrinnen zu können, scheint den jungen Japanern kein Preis zu hoch zu sein. Die Summe, die man für eine gut erhaltene alte Basis auf den Tresen blättern muss, liegt zwischen 1.500.000 und 2.500.000 Yen. Also zwischen 12.000 und 19.000 Euro. Die Summe ist für einen jungen Japaner nicht gerade wenig und wie erfahrene Schrauber wissen, oftmals erst der Anfang eines Fasses ohne Boden.

Dass es sich die jungen Wilden der japanischen Harley-Szene auch über die anstehenden Kosten hinaus nicht gerade leicht machen, belegen die zahlreichen Aufbauten, die man hierzulande überwiegend und ohne zu übertreiben als „nur schwer“ bis „nicht fahrbar“ bezeichnen würde.

Suizidschaltung? Was sollte daran besonderes sein, wundert sich der Japaner. Starre Rahmen mit meterlangen Gabeln, die in ihrer Kombination eine Fahrwerksgeometrie ergeben, bei der sich die Frage nach dem Nachlauf von selbst verbietet, stellen in Japan nicht die Kür dar, sondern scheinen dort viel mehr zur Pflicht zu gehören.

Wem es darüber hinaus immer noch nicht hart genug ist, der baut sich einen Lenker ans Bike, bei dem sich jeder Orthopäde mit Aussicht auf spätere Kunden vor Freude die Hände reiben würde.

„East meets West“, so scheint es, wenn der „Samurai“ auf  seinen Bike reitet, da versuchen die Hände mit  anatomisch ans unmögliche grenzenden Verrenkungen ein Bike zu bändigen, das bedingt durch die vorgenommen Veränderungen eher an einen bockenden Mustang, als an ein pflegeleichtes Zweirad erinnert.

Wer es nicht so hoch mag, der schlägt die andere Richtung ein, baut flach und frönt damit dem anderen Extrem japanischer Harleybegeisterung. Während der altbekannte Chopperstil der Tradition der frühen Jahre folgend dem Himmel zustrebt, neigen sich die Umbauten auf der Basis des in Japan entwickelten Goosneckrahmens der Erde zu. Kompakt und Erdverbunden erinnern diese Rahmen, die ihrem Namen nach eher ein filigranes, graziles Bild erwarten lassen, eher an einen kraftvoll lauernden Büffel, als das sie mit einem Schwan in Verbindung gebracht werden könnten.

Wie dem auch sei, erfordern doch beide Ausdrucksformen japanischer Zuneigung an das amerikanische Eisen den ganzen Mann beziehungsweise die ganze Frau. Bezüglich der Körpermasse, die japanische Biker/innen in die Waagschale werfen könnten, haben diese in der Regel nicht all zuviel zu bieten und zeigen sich dennoch nicht sonderlich beeindruckt. Fehlende Masse gleichen sie durch das beherrschen der Technik und durch einen durch nichts zu erschütternden Glauben an ihre Maschinen aus.

So ziehen sie, allzeit bereit jedem auftauchenden Hindernis unter Einsatz aller körperlicher und geistiger Fähigkeiten zu begegnen, den Lenker fest im Griff, einen laut dröhnenden Auspuff im Nacken und den Blick immer nach vorne auf die Straße gerichtet, ihre Bahnen.

Hinterfragt man das breite Grinsen, das ihnen trotz aller Anforderungen dabei im Gesicht steht, wird man sich unter Harleyfahrern über die Antwort kaum wundern.

Das Gefühl! Es ist das Gefühl, das auch in Japan den meisten Besitzern alter Harleys ein zufriedenes Grinsen ins Gesicht zaubert und das zeigt, dass sie ihre Harleys als einen der wichtigsten Dinge im Leben ansehen.

Nun werden viele Harleyfahrer dieses Gefühl kennen, schätzen und als normal bezeichnen. Doch was japanische Harleyfahrer von jedem anderen Harleyfahrer außerhalb Japans unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie einem Volk angehören, in dem das Zulassen von Nähe jeder Art als grundsätzlich problematisch empfunden wird.

Auf der anderen Seite gibt es kaum etwas distanzloseres, etwas das mehr Nähe herstellt, als das Vibrieren eines alten Harleymotors. Jeder, der sich jemals auf eine alte Harley gesetzt hat, kennt dieses Gefühl des direkten respektlosen Kontaktes, das Vibrieren und Pulsieren, das sich vom Aggregat direkt auf den Fahrer überträgt und ihn erst wieder los lässt, wenn der Motor mit einem letzten Ausatmen nach dem Abschalten zur Ruhe kommt und selbst dann bleibt das  Pulsieren als Erinnerung mit Suchtfaktor im Körper gespeichert.

Man kann sich also leicht vorstellen, wie es auf einen auf Distanz bedachten Japaner wirken muss, wenn ihm einer dieser alten Motoren bildlich gesprochen mit festem Griff packt und ihn ordentlich und lang anhaltend auf nie gekannte Weise durchschüttelt.

So wird eine alte Harley in Japan zu einem Gefühl, einem Sinnbild der Nähe und Vertrautheit in der der Fahrer sich nicht nur mit der Maschine verbindet, sondern auch sich selbst als die harmonischen Einheit von Körper und Geist wahrnimmt.

Den Wert, den er diesem Gefühl beimisst, drückt sich vor allem durch den liebevollen Umgang und der Aufmerksamkeit aus, die er seiner Maschine zu Teil werden lässt. In einer Welt in der möglichst alles glatt und reibungslos zu laufen hat, wirken jeder dieser Aufbauten wie ein Fels in der Brandung. An jedem einzelnen von ihnen bleibt der Blick des Betrachters hängen, wird eingeladen zu verweilen und bekommt die Möglichkeit immer wieder Neues zu entdecken. Es fällt auf, dass das bloße Anschrauben von Kaufteilen nicht die Sache der Japaner zu sein scheint. Stattdessen lassen sich an jeder Maschine individuelle Lösungen finden, die immer auch etwas vom Geist des Erfinders widerspiegeln und Auskunft über den Weg geben, auf dem er sich befindet. Und der sich Aufgrund seiner Individualität weit von dem entfernt, was man in Japan im Allgemeinen als erstrebenswerten Standart bezeichnen würde. Und weil sich die Masse der Japaner immer mehr diesem Standart unterzuordnen scheint, bleibt gerade die Harleyszene in Japan als lebendiger Gegenpol so interessant, innovativ und anregend, dass man in Zukunft immer mal wieder einen Blick auf die Biker im Land der Sonne werfen sollte, um auch den eigenen Kompass neu ausrichten zu können.