Wal Mart 2007
Fotos und Text: Peter Su Markus2007 Nach einem knapp vierwöchigem Trip durch Amerikas Nordwesten befinden wir uns nun im Nirgendwo zwischen Seattle und San Francisco.
Die Interstate 5 verbindet die beiden Metropolen vom oberen Ende des Staates Washingtons, quer durch Oregon über 800 Meilen in einer nahezu geraden Linie bis ins sonnige Kalifornien. Ortschaften, deren Namen man noch nie gehört hat und vermutlich auch nie wieder hören wird, tauchen am Horizont auf, gleiten vorüber und verblassen im Rückspiegel, so als würde man auf der Stelle stehen und die Landschaft an einem vorbei gezogen. Wer auf einer dieser Endlosstrecken nach Unterhaltung sucht, wird selbst dafür sorgen müssen.
Also den Tempomat auf entspannte 100 Meilen eingestellt, um zu einem Bestandteil des ständigen Stroms zu werden, die Seitenfenster des Chevy Metro von Onkel Alamo runter gefahren und die CD von Simon & Garfunkel in den CD Player geschoben und schon ist man ein Teil des amerikanischen Traums.
Nachdem wir die abwechslungsreiche Landschaft um Seattle mit ihren saftig grünen Hügeln hinter uns gelassen haben, übernimmt den Part der Unterhaltung ein vor uns fahrender mitternachtsblauer ´66 Ford Falcon. Als er uns ein paar Meilen zuvor überholt hatte, war mir das große „For Sale“ Schild mit seinen ausgewiesenen 800 Dollar im Heckfenster ins Auge gefallen.
800 Bucks?! Nicht zu viel für ein Modell aus den 60ger Jahren, das über lange Jahre als die Hausfrauenversion des Mustangs verlacht wurde, doch inzwischen selbst einen gesuchten Klassiker darstellt.
Der Film, der sich während solcher Begegnungen vor dem geistigen Auge des Betrachters zu entwickeln beginnt, dürfte vielen bekannt sein. Zunächst stellt man fest, dass der ausgerufene Preis für einen Traum auf vier Rädern beim gegenwärtigen Wechselkurs wirklich nicht zu hoch ist. Dann beginnt man sich plötzlich unsterblich in ein Auto zu verlieben, von dem man bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal bewusst Notiz genommen hatte.
In der Folge entwickelt sich dann gerne eine der „was wäre wenn“ Geschichten. Was wäre, wenn man hier leben würde? Was wäre, wenn man sich ein solches Auto tatsächlich kaufen und aufbauen würde? Was wäre, wenn das ganze Leben in grundsätzlich anderen Bahnen verlaufen würde?
Am Ende all dieser Gedanken und Fragen wird das Steuer wieder von der „Vernunft“ übernommen. Dein Leben ist genauso verlaufen, wie du es bisher gelebt hast! Du lebst nicht in diesem Land und dementsprechend wirst du dieses Auto nicht kaufen, es nicht aufbauen und es auch nicht fahren!
So und nicht anders sieht es aus und alles andere wäre überaus unwahrscheinlich.
Dann wird der Blick von etwas Neuem gefangen genommen und ein neuer Film beginnt sich zu entwickeln. So vergeht die Zeit und beim nächsten Blick auf die Straßenkarte wird man feststellen, dass man einige der nichts sagenden Ortschaften am Rande des Interstate komplett verträumt hat.
Dass dieser Film sich anders entwickeln würde, liegt an der Tatsache, dass der Falcon nicht nur für schlappe 800 Bucks zu haben sein soll, sondern sich darüber hinaus offensichtlich auch von seinem linken Hinterrad verabschieden will. Zunächst scheint es lediglich so, als habe das Rad nur einen leichten Schlag. Doch schnell nimmt das Schlagen zu und das Rad beginnt sich mit jedem zurückgelegtem Meter stärker zur Seite zu neigen.
Jeder, der bereits schon einmal in den Genuss eines Radlagerschadens gekommen ist, wird das ungute Gefühl kennen, das einen befällt, wenn sich das Knirschen und Schlagen des Lagers zu entwickeln beginnt. Den Fahrer des Falcons scheint dies jedoch kaum zu beeindrucken. Im wummernden Rhythmus der Musik, die Lautstark bis zu uns herüber klingt, bewegt sich sein Kopf vor und zurück. Alles in allem ein „Lucky Man“. Ein atemberaubendes Wolkenspiel am Himmel! Ein endloser Horizont! Ein Auto, das man ohne Zweifel als einen Klassiker bezeichnen kann und gute Musik! Was könnte man mehr wollen?
„Gut“, er könnte noch eine schöne Frau auf dem Sitz neben sich oder zumindest ein Surfboard auf dem Dach haben, um das Bild perfekt zu machen. Stattdessen hat er ein Hinterrad, das die nächste Meile wohl nicht überstehen wird und das Bild des „Lucky Man“ in kürze auf eine mehr oder weniger unsanfte Art beendet, falls er es weiterhin mit gleich bleibender Konsequenz ignoriert.
Ich bringe unseren Metro auf eine Höhe mit seinem Falcon, drücke auf die Hupe und meine Frau beginnt zu winken und auf sein hinteres Rad zu deuten. Er winkt freundlich zurück, ohne dass wir das Gefühl bekommen, er verstünde, was wir von ihm wollen.
Inzwischen schlägt das Rad so stark und laut, dass selbst die Musik übertönt wird. Ich setzte mich vor ihn und schalte in einem letzten Versuch die Warnblinkanlage ein. Was ich dann noch von dem Falcon im Rückspiegel sehe, ist das der Fahrer uns immer noch fröhlich zuwinkt, bevor er nach einem kurzen Linksschlenker abrupt in einer Staubwolke in der Ebene, die sich rechts neben der Fahrbahn bis zum Horizont erstreckt, verschwindet. Wir befürchten das Schlimmste und ich lenke den Chevy ebenfalls an den Straßenrand. Vorüberziehende Trucks betätigen warnend ihre lautstarken Fanfaren, während wir aussteigen und zurück in Richtung der sich langsam legenden Staubwolke laufen.
Doch der Fahrer des Falcon bleibt für weitere Überraschungen gut. Noch während der Staub sich legt, lehnt er bereits lässig neben der Türe seines Wagens. Das Handy am Ohr, schenkt er seinem Hinterrad, das nun erbärmlich aus dem hinteren Radkasten ragt und eine tiefe Furche in den Schotter des Seitenstreifens gezogen hat, bemerkenswert wenig Aufmerksamkeit. Unserer Frage ob er O.K. sei beantwortet er mit einem kurzen „Yep!“.
„Ob er Hilfe benötige?“, er wirft einen kurzen Blick auf das Rad und schüttelt den Kopf. „No!“, sein Onkel hätte einen Abschleppwagen und würde sich eine Ausfahrt weiter, bei einem Barbecue auf dem Parkplatz des Wal Marts befinden. Wenn er ihn dort erreicht, dann würde ihn dieser von der Straße schaffen. Er drückt eine Taste auf seinem Handy und hebt das Gerät erneut ans Ohr.
„Shit!“, offenbar beginnt er nun doch Nerven zu zeigen.
„Shit!“. So wie es aussah, ging sein Onkel nicht ans Handy, wenn er sich auf einem Barbecue befand und plötzlich schien er doch Hilfe gebrauchen zu können. Wäre nett von uns, wenn wir die nächste Ausfahrt kurz raus fahren könnten, um seinen Onkel über sein „kleines“ Missgeschick zu informieren.
„Kein Problem!“. Er beginnt breit zu grinsen und stellt sich als Joe vor. Sein Onkel sei leicht zu finden. Direkt auf der rechten Seite der Ausfahrt befinde sich der nicht zu übersehende örtliche Wal Mart. Dort würden sich heute die Hot Roder der Gegend zu besagtem Barbecue treffen. Sein Onkel hieße ebenfalls Joe und wäre vermutlich mit einem roten, mit Flammen versehenen, hochgelegtem Pick Up dort. Wenn wir also kurz raus fahren und ihm die Lage erklären könnten, würde er das extrem „Kindly“ finden. Gesagt, getan. Als wir uns wieder in den Verkehr einfädeln, hebt er kurz den Arm zum Gruß, bevor er nun wieder lässig am Wagen lehnend, das Handy ans Ohr hebt und im Rückspiegel kleiner wird.
Das große Rechteck des Wal Mart Gebäudes ist in der Tat nicht zu übersehen. Schon von weitem signalisiert es dem Suchenden, dass er dort alles findet, was er zum Überleben braucht. Wir nehmen die Abfahrt und ich lenke den Chevy auf den Parkplatz, der zunächst aussieht wie jeder x-beliebige andere Parkplatz dieser riesigen Einkaufsmeilen. Ein normaler Parkplatz, mit normalen Autos. Von einem Barbecue ist zunächst ebenso wenig zu sehen, wie von den angekündigten Hot Rods oder Joe`s hochgelegtem Pick Up. Dann werden wir mit Getöse von einem wüst aussehendem Rat Rod überholt, der zielstrebig einen etwas abseits gelegenen Bereich des weitläufigen Parkplatzes ansteuert.
Da hier jemand fährt, der offensichtlich weis wo es lang geht, klemme ich mich an seine nicht vorhandene Stoßstange und lasse mich von ihm zum Ort des Geschehens lotsen. Eines der ersten Autos, das uns auf diesem Teil des Parkplatzes ins Auge fallt, ist in der Tat ein roter, mit Flammen versehener, hochgelegter Pick Up und drei davor stehende kernig aussehende Typen, von denen einer vermutlich Onkel Joe war. Ich halte neben den Dreien an, strecke den Kopf aus dem Fenster und frage, ob einem von ihnen der Pick Up gehört. Alle drei drehen die Köpfe zu mir, mustern zunächst mich, dann unseren kleinen Metro, dann das kalifornische Nummernschild, dann wieder mich.
„Yep!“, sagt dann einer der Drei und ich muss grinsen. Das Vokabular scheint sich unter den kernigen Männern der Gegend auf das Wesentlichste zu beschränken.
Ich erkläre ihm kurz die Lage seines Neffen und erhalte als Antwort ein kurzes „Shit!“. Umständlich kramt er sein Handy aus der Tasche, um seinen Neffen zu kontakten. Scheinbar erklärte ihm dieser die Lage noch einmal. „Shit!“, lautet auch dieses Mal der ausdrucksstarke einsilbige Kommentar seines Onkels. Er erklärte den beiden anderen worum es ging und diese sparten sich jedes Wort und zogen lediglich die Schultern hoch.
“Thanks folks!”, ruft er uns zu, als er in seinen Pick Up steigt und vom Parkplatz fährt. Jetzt wo alles wichtige geklärt war, schien die Zeit für etwas Smalltalk gekommen. Einer der beiden, die sich gerade noch mit Onkel Joe unterhalten hatten, lehnt sich ebenso lässig wie Neffe Joe an den Metro.
„Ihr seid weit weg von zuhause! Seid ihr den ganzen Weg von Kalifornien rauf in dieser „Shit Box“ gefahren?“
Wir haben diese Gespräche schon oft geführt. Für die meisten Amerikaner scheint es ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, dass sich jemand mit einem Fahrzeug von der Größe eines Opel Corsa über die Stadtgrenze hinaus, auf eine längere Reise begibt. Umso ungläubig erstaunt ist seine Reaktion, als wir ihm erzählen, dass wir in den letzten Wochen gut 9000 Meilen quer durch Oregon, Washington und wieder zurück in dieser „Shit Box“ zurückgelegt haben.
„No!“. Auch er würde sich, wie er betonte, in so einer Box nicht über die Stadtgrenze hinauswagen. Als ich ihn freundlich darauf hinweise, dass nicht wir, sondern sein Kumpel Joe mit einem abgerissenen Hinterrad im Graben des Interstate liegt, beginnt er breit zu grinsen.
„Yep!“, so ist das Leben. So wie er am Wagen lehnt, staubige Stiefel mit abgelaufenen Absätzen, abgewetzte Jeans, verschlissenem Shirt und der Truckerkappe auf dem Kopf, frage ich mich was er für einen Wagen fährt. In der näheren Umgebung sind einige optisch ziemlich fertig aussehende Hot Rods abgestellt und jeder von diesen würde ideal zu meinem Gesprächspartner passen. Doch als ich ihn nach seinem Auto frage, nickt er mit dem Kopf kurz in Richtung eines etwas abseits abgestellten schneeweißen „Impalas“. Seinem breiten Grinsen zur Folge, freut er sich über den ungläubigen Blick mit dem ich ihn ansehe.
Und natürlich ist er gerne bereit mir die Geschichte seines Impalas zu erzählen. Eine Geschichte, die so oder ähnlich in unzähligen Familien erzählt wird und die auf diese Weise doch nur in Amerika erzählt werden kann. Die Geschichte eines Traums, in dem sich alles um den „einen“ Straßenkreuzer dreht. Eine Geschichte, die von der Liebe zu den endlosen Highways dieses weiten Landes vorangetrieben wird. Einem Traum den sich der Großvater vor Jahrzehnten erfüllt hat und in dem seitdem ganze Generationen quer durch die Staaten von Nord nach Süd und von Ost nach West geschaukelt wurden. Ein Traum, der irgendwann vom Vater übernommen und weitergeträumt und von diesem dann an den Sohn weitergegeben wurde und nun im Zustand eines Neuwagens vor uns stand. Er deutet in Richtung der auf dem Platz abgestellten Fahrzeuge. Die meisten dieser Autos würden eine ähnliche Geschichte erzählen und er würde gerne wissen wie es bei uns in Deutschland sei. Ich zucke mit den Schultern. Was soll man sagen? Natürlich gibt es auch bei uns diese Geschichten, doch in der Summe gesehen landeten die Fahrzeuge unserer Großväter als Relikte einer angestaubten Zeit unwiederbringlich in den Pressen der Schrottplätze und das war angesichts der hier gelebten Geschichten ein überaus schmerzliches Kapitel.
Das Schicksal von Joe und seinem Falcon hatte sich inzwischen auf dem Platz herumgesprochen. Die meisten kannten ihn und es schien sie zu amüsieren, dass ausgerechnet ein Pärchen aus Deutschland in einem Metro angehalten hatte, um ihm zu helfen. So wurden wir nun von Wagen zu Wagen weitergereicht, um etwas über „richtige“ Autos und auch ihre Fahrer zu erfahren. Eine Eigenschaft die auf diesem Platz alle teilten, war die Liebe zu ihren alten Autos. Zu einer Technik, die fernab jedes Elektronikwahns, im wahrsten Sinne des Wortes noch nachvollziehbar zu „begreifen“ war. Zu Fahrzeugen mit eigenständigem Charakter, die sich seit Generationen im Besitz der Familie befanden oder besser gesagt seit Generationen mit zur Familie gehörten.
Als ich einen von ihnen nach dem Sinn und Zweck des Treffens frage, sieht er mich fragend an. „Wie? Sinn und Zweck?“ Was das Treffen für einen Sinn oder Zweck haben sollte, ließ sich für ihn ganz einfach beantworten. Sein Auto neben dem Auto eines anderen zu parken und mit dem Nachbarn, den man sowieso immer irgendwo in der Gegend trifft, zu quatschen. Und damit man nicht denkt das sei wie an jedem anderen Tag in der Gegend, gab es heute das Barbecue. Das war alles. Mehr Sinn und Zweck gab es nicht und nach mehr Sinn und Zweck schien hier auch niemand zu suchen, um glücklich und zufrieden zu sein.
An irgendeinem Sonntag, auf irgendeinem Parkplatz, vor irgendeinem Wal Mart, fernab des üblichen Hod Rod Zirkus, den man von den offiziellen, groß beworbenen Hot Rod Shows kennt, suchten hier Menschen, die ihre Autos wie selbstverständlich zu den Mitgliedern ihrer Familie zählten, die Nähe zu Menschen, die dies ähnlich sahen.
Das war Sinn und Zweck der ganzen Veranstaltung und wer Glück hat landet während seines Trips durch Amerika zum richtigen Zeitpunkt auf dem richtigen Parkplatz, um ein paar Stunden mit diesen Menschen und der Liebe zu ihren Fahrzeugen zu verbringen. Und dann gab es natürlich auch noch das Barbecue. Doch das ist eine andere Geschichte.