Die Stadt als Fokus gesellschaftlicher Veränderungen
"Suburbanisierung"
Als Prozeß in Nordamerika seit den 20er Jahren, in Deutschland im wesentlichen erst seit den 60er Jahren beobachtet, ausgelöst durch Umzüge von Mittelschicht-Haushalten aus den Großstädten in die zuvor ländlichen Umlandgemeinden.
Definition nach Friedrichs (1977): "Verlagerung von Nutzungen und Bevölkerung aus der Kernstadt, dem ländlichen Raum oder anderen metropolitanen Gebieten in das städtische Umland bei gleichzeitiger Reorganisation der Verteilung von Nutzungen und Bevölkerung in der gesamten Fläche des metropolitanen Gebietes".
Andere kürzere (allerdings auch zirkuläre) Definition: "Intraregionale Dekonzentration" innerhalb von Stadtregionen. Zusätzlich kann man unterscheiden:
a) absolute Dekonzentration (mit absoluter Schrumpfung der Kernstadt) und
b) relative Dekonzentration (nur relativ größeres Wachstum der Umlandgemeinden).Diese Definition setzt voraus: Konzept der "Stadtregion", entwickelt in den 50er Jahren von Olaf Boustedt und weiterentwickelt in den 60er Jahren von der Akademie für Raumforschung und Landesplanung in Anlehnung an das nordamerikanische Konzept der "Metropolitan Statistical Area" als Modell zur vergleichbaren Beschreibung von Agglomerationen, die durch das räumliche Wachstum über die politisch-administrativen Grenzen der Kernstädte (Suburbanisierung) entstanden sind.
Abgrenzungskriterien: a) Strukturmerkmale (Einwohner-Arbeitsplatz-Dichte),
b) Verflechtungsmerkmale (Pendlerverflechtungen).
Man unterscheidet:
a) "Bevölkerungssuburbanisierung" (zunächst ausschließlich beobachtet und untersucht),
b) "Industriesuburbanisierung",
c) "Dienstleistungssuburbanisierung".
Gründe für die Bevölkerungssuburbanisierung:
- Zunahme der privaten Einkommen (Voraussetzung für weitere Faktoren),
- Privatmotorisierung der Haushalte,
- Zunahme des Wohnflächenkonsums (größere Wohnungen, Einfamilienhaus),
- Wertewandel (Umweltsensibilität, Wunsch nach naturnahem Wohnen),
- Verdrängung von Wohnnutzung aus den Innenstädten (Push-Faktor),
- Stellung im Lebenszyklus (typischer "Suburbanit": gut verdienender
Mittelschicht- aushalt mit 1-3 kleinen Kindern);
- aufgrund dieser Faktoren wird erklärlich, daß die Suburbanisierung a) konjunktur-
abhängig ist und b) vor allem in den sechziger bis achtziger Jahren erfolgte.
Gründe für die Industriesuburbanisierung:
- Zunahme des gewerblichen Flächenbedarfs (eingeschossige Anordnung, Bedarf an
Parkplätzen, Erweiterungsreserven usw.),
- Verdrängung aus den Kernstädten (Kosten, Erweiterungsflächen-Mangel,
Umweltauflagen),
- Lockerung früherer Standortbindungen (z.B. an Eisenbahn).
Gründe für die Dienstleistungssuburbanisierung:
- wachsender Flächenbedarf (Abnahme der Flächenproduktivität im Handel),
- Veränderung, teilw. Umkehrung der Erreichbarkeitsverhältnisse Stadt-Umland,
- Zunahme der Nachfrage im suburbanen Raum (als Folge der Bev.-Suburb.),
- Auslagerung von "Back-Offices" aus Kostengründen (und teilw. wg. veränderter
Erreichbarkeit).
Folgen der Suburbanisierung:
- Rückwirkungen auf die Kernstädte: Abwanderung jüngerer Mittelschicht-Haushalte
führt zu sozialstrukturellen Verwerfungen (Zurückbleiben der 4 "A"s: Arme,
Alte, Ausländer, Arbeitslose; Folge: fiskalische Schere mit zunehmenden Sozial
ausgaben der Kommunen und sinkenden Steuereinnahmen;
- Gesamte Stadtregion dehnt sich räumlich aus mit zunehmenden Verkehrsbelastungen,
Bewertung: Verlust der Nachhaltigkeit gegenüber der "kompakten Stadt";
"Desurbanisierung" ("Counter urbanization")
Von B. Berry bereits 1973 in den USA beobachtet, in Europa erst seit den 80er Jahren. Desurbanisierung bezeichnet im allgemeinen Sinne eine "interregionale Dekonzentration" (von Bevölkerung und wirtschaftlichen Aktivitäten) zu Lasten der großen Städte und Stadtregionen und zugunsten der ländlichen Regionen bzw. kleiner Gemeinden. Desurbanisierung entstand in den 70er Jahren in einer Übergangsphase zunächst durch die räumliche Ausweitung (und das Abflachen) der "Suburbanisierungswelle"; seit den 80er Jahren zeigen in den meisten Industrieländern aber auch die meisten peripheren ländlichen Regionen positive Salden.
Entscheidender Unterschied zur Suburbanisierung: auch Arbeits- und Versorgungsorte im ländlichen Raum, d.h. nicht mehr funktional auf Stadtregionskerne bezogen.
Erklärung:
- Saldo der Ballungsvor- und -nachteile kehrt sich um zugunsten der ländlichen Räume:
- Rückgang der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit flacht asymptotisch ab;
- Ubiquität harter Standortfaktoren wie Verkehr, Versorgung;
- Ballungsnachteile (hohe Kosten, Umweltbelastung usw.) werden wichtiger;
- Industrialisierung der ländlichen Räume;
- Wertewandel zu Lasten urbanen und zugunsten naturnahen ländlichen Lebens.
Diese Faktoren gelten für Bevölkerung (und tendenziell auch für das produzierende Gewerbe), kaum jedoch für metropolitane Funktionen (unternehmensorientierte Dienstleistungen).
Neuerer Trend seit den 80er Jahren: "Re-Urbanisierung" (?)
Beobachtet in den Nordamerika seit den 80er Jahren, in den 90er Jahren auch in Europa (aber umstritten, ob es sich überhaupt um einen generellen Trend handelt).
Faktoren der Re-Urbanisierung:
- überproportionales Wachstum der stadtzentrierten Dienstleistungen (insbesondere
unternehmensorientierte Dienstleistungen, Finanzwesen usw.);
- internationale Immigration, die sich überproportional auf die Kernstädte richtet;
- "Gentrifizierung" bestimmter citynaher Wohnquartiere;
- sozio-demographischer Wandel (höherer Anteil von Single-Haushalten).
Beispielhafte Studie: Ley, David (1996): The new middle class and the remaking of the central city. Oxford: Oxford Univ. Press. 383 S. = Oxford Geographical and Environmental Studies.
Studie über das "Embourgeoisement" (Verbürgerlichung) der citynahen Stadtbezirke, empirisch basierend auf den großen kanadischen Städten, aber weithin verallgemeinerbar. L. bevorzugt den Begriff "Embourgeoisement" statt des mißverständlichen metaphorischen Begriffs "Gentrification".
Dieser Prozeß wird als Teil eines umfassenderen ökonomischen, sozialen und politischen Restrukturierungsprozesses interpretiert, wobei die ökonomischen, sozialen und politischen Transformationen teils als Ursache, teils als Folge aufgefaßt werden.
Klassische Modelle der Sozialökologie: ältere Innenstadtviertel durchlaufen einen "Filterprozeß", so daß ihr sozialer Status immer weiter absinkt; dies ließ sich im großen und ganzen bis zu den 60er Jahren bestätigen.
Heute sind jedoch andere Prozesse zu beobachten: zunehmend kleine Haushalte, berufstätig im "professional-managerial sector", meistens in der Downtown, Altersstruktur meist einerseits um die 30, andererseits "empty nesters", meist in condominiums wohnend. Der Prozeß umfaßt sowohl "renovation" (Renovierung von Altbauten) als auch "redevelopment" (Abriß und Neubau).
Betont, daß diese Prozesse nicht ohne weiteres verallgemeinerbar sind: S. 8: "... that there is a geography of gentrification: that the trends remaking the inner cities of Toronto, San Francisco, or London are not shared by Winnipeg, Detroit, or Liverpool. Nor is every neighbourhood equally susceptible to middle-class settlement."
Zusammenhänge dieses Prozesses mit:
a) ökonomischer Restrukturierung: Wachstum des professional-managerial Sektors, der heute bereits 30% der kanadischen Beschäftigung ausmacht; teils nationale Trends, teils city-spezifische Trends), Ausbau des HEW-Komplexes (health, education, welfare; führt insb. zur Steierung der Frauen-Erwerbsbeteiligung);
b) Immobilienmarkt entdeckte seit den 70er Jahren die (damals) billigen innenstadtnahen Quartiere; bauliche Prozesse: Veränderungen der Einzelhandelsstruktur, neue Branchen, Ambivalenz postmoderner Architektur; neuer Slogan: "A city to live in and enjoy";
c) sozial-demographischer Wandel: Infragestellung der Kleinfamilie, neue Jugend- und Protestkulturen, Single- und DINKs, innenstadtorientierte Lebensstile; "Follow the Hippies": The cultural politics of gentrification: Jugend-Protest-Kulturen in den Städten, Künstlerkolonien; später gefolgt von Yuppies und verschiedenen Lebensstilen;
d) politischer Wandel: Wechsel der Stadtpolitik von suburbaner Außen-Expansion zur Innenstadt-Entwicklung; "The new urbanism: the neighbourhood movement": Nachbarschaftsbewegung, d.h. Bürgerinitiativen für kleinräumige Belange, oft von Frauen getragen; neue reformorientierte Parteien wie Gründe, von intellektuellen Mittelschichten getragen;
Folge: zunehmende sozio-ökonomische Polarisierung und Verdrängung der einkommensschwächeren Haushalte.
Hilfreich zum Verständnis sind drei wesentliche theoretische Konzepte:
1) These der post-industriellen Gesellschaft (D. Bell);
2) Übergang zum Postfordismus (polit-ökonomische Interpretation);
3) Die postmoderne Stadt (als Ausdruck einer neuen Geschmackskultur mit veränderten
Konsumstilen und Werten).
Kontroverse Diskussion der Bedeutung des Prozesses: Einerseits haben Kritiker Recht, die vor einer Überschätzung warnen (Berry: "Islands of renewal in seas of decay"; Bourne: Der Einkommens-Gradient in den kanadamischen Städten hat sich seit den 50er Jahren nicht wesentlich verändert (aber dabei muß man Haushaltsgrößen und Frauenerwerbstätigkeit beachten!)), so daß man Gentrification nicht als Umkehrung der anhaltend bedeutsamen Suburbanisierung mißverstehen darf. Gentrification läßt sich auch nicht einfach mit dem traditionellen Sozialstatus-Konstrukt messen. Kritische Auseinandersetzung mit der "Post-gentrification-These": Einige Prozesse schwächen sich zwar ab (Wohnungsnachfrage des Baby-Booms der Nachkriegszeit; Stagnation des HEW-Komplexes ("health, education, welfare"), aber andere Prozesse, die in Richtung Gentrification wirken, verstärken sich: Internationalisierung, Trend zur "Executive city"
Räumliche Polarisierung der Stadt als Ausdruck allgemeiner gesellschaftlicher Polarisierung:
- Modell der 'dual city' oder 'two speed city'
- Modell der dreigeteilten Stadt:
1) 'erste Stadt': international wettbewerbsfähige Stadt,
2) 'zweite Stadt': Wohn-, Arbeits- und Versorgungsstadt der Mittelschichten;
3) 'dritte Stadt': sozial marginalisierte Gruppen, insb. Ausländer, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Alleinerziehende (sog. "A-Stadt").
- Krätke (z.B. 1995): Modell der 'quartered city' mit 5 typischen Quartieren:
1) Stadt der Herrschaft und des Luxus (Büros, Shopping-Center, Hotels),
2) gentrifizierte Wohnstadt (gentrifizierte Altbauquartiere und moderne Villen- und Apartmentviertel) für Manager, Yuppies usw.
3) mittelständische Stadt,
4) Mieterstadt der niedrig entlohnten Arbeiterbevölkerung in unsicheren
Beschäftigungsverhältnissen,
5) aufgegebene Stadt der Verarmten und anderen Randgruppen.
Städte gleichen immer mehr einem sozio-ökonomischen 'Flickenteppich' mit Armutsinseln und Luxusvierteln.
Soja, Edward W. (1995): Postmoderne Urbanisierung. Die sechs Restrukturierungen von Los Angeles. In: Gotthard Fuchs, Bernhard Moltmann und Walter Prigge (Hg.): Mythos Metropole. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. S. 143-164. = Edition Suhrkamp 1912.
Vortrag über postmoderne Stadtentwicklung am Beispiel von Los Angeles. Sechs Prozesse bzw. Phänomene werden als Hauptlinien der Entwicklung zur Postmoderne herausgestellt: 1) Restrukturierung der ökonomischen Grundlagen (von der fordistischen Produktion und Konsumtion zu flexiblen Produktionssystemenmit Neo-Industrialisierung),
2) Entwicklung zur global city,
3) Restrukturierung der urbanen Form,
4) neue kaleidoskopartige Sozialstruktur,
5) befestigte Stadt mit privaten Sicherheitssystemen,
6) radikaler Wandel der Vorstellungswelt des Urbanen, Entstehgung von Hyperräumen.
Fazit: die Stadt als Fokus gesellschaftlicher Veränderungen in der Postmoderne:
1) Fragmentierung und neue Disparitäten sowohl innerhalb der Städte als auch zwischen den Städten als Ergebnis von zwei Prozessen:
a) Entindustrialisierung und Dienstleistungswachstum (insb. metropolitaner Funktionen),
b) Rückzug des Wohlfahrtsstaates ("Unternehmer- und Suppenküchen-Stadt");
Folge: mehrfach geteilte Stadt.
2) Allgemeine Trends und Muster verlieren an Bedeutung: Auflösung der klassischen sozialökologischen Muster, flickenteppichartiges Nebeneinander von Sub-, Des- und Reurbanisierung;
3) Neue Bedeutung von Kultur und Ästhetik ("Stadt als Bühne", "Fun City") anstelle des Leitbildes des "funktionierenden und versorgenden Stadt".
Neuere Veränderungen in den Stadtzentren
Kombination von Einkaufen und animierter Freizeitgestaltung: "Urban Entertainment Center" (UEC)
Zuerst in USA entwickelt, Vorbilder: Las Vegas, Atlantic City sowie:
Seit 1998 in Europa in vielen Städten in Planung bzw. im Bau:
Eigenschaften:
(1) inszenierte Erlebniswelten, die mit dem traditionellen Verständnis von historisch gewachsenen, authentischen Stadträumen radikal brechen und künstliche, simulierte Stadträume ("Hyperräume") an deren Stelle setzen.
(2) Kombination von Shopping, Entertainment, Städte-Tourismus.